Nun ist es schon eineinhalb Jahre her, dass ich das viel versprechende Plakat zur Atlas-Ausstellung von Gerhard Richter entdeckte. Bis ich es dann endlich geschafft hatte, mir die Ausstellung anzusehen, war sie schon fast wieder vorbei. Da ich aber wirklich beeindruckt vom Gesehenen war, mich einige Erinnerungen bis heute begleiten und sich das Thema des Sammelns, Zusammenstellens und Präsentierens über lange Zeit zu einem meiner Hauptinteressensgebiete entwickelte, dachte ich, es ist auch jetzt nicht zu spät ein paar Sätze darüber zu schreiben. Schon der Blick von der Rampe des Münchner Kunstbaus hinunter in den Ausstellungsraum löste einen Sog aus. Man wollte sofort in den Bilderkosmos eintauchen. Den überwältigenden Eindruck erzeugten unzählige, gleichgroße Holzrahmen, die wie Kacheln die Wände des langen Raums bedeckten. In ihnen zu sehen waren Fotografien und Ausschnitte aus Zeitungen und Illustrierten. Einige davon waren übermalt oder mit collagierten und zeichnerischen Elementen versehen. Die Bilder wurden in Blöcken präsentiert und mit einem thematischen Schwerpunkt betitelt. Portraits, Fotografien aus Richters familiärem Umfeld, Geschichtliches, einige Stilleben und eine große Anzahl von Landschaftsaufnahmen, die oftmals Reiseziele Richters zeigten, waren die Hauptmotive. Einige Themen wiederholten sich mehrmals im Laufe der Ausstellung, so zum Beispiel Wolkenformationen, Bilder vom Meer und das Aufeinandertreffen dieser beiden Elemente. Die Bilder gewährten faszinierende Einblicke in den Arbeits- und Denkprozess Richters.
Die riesige Anzahl an Bildern, die während des Spaziergangs durch die Ausstellung an einem vorbeizog und die sich motivisch zum Teil über mehrere Blöcke hinweg nur nuancenreich veränderte, machte einerseits neugierig auf noch mehr Variationen, andererseits erweckte sie die Frage nach einer Essenz. Ich hatte den Drang alles zu sehen, einzuordnen und mit meinen eigenen Bildern und Erinnerungen abzugleichen. Doch schon bald hatte ich den Anspruch verloren, jedes Foto wichtig zu nehmen, obwohl ich mir sicher bin, dass jedes der präsentierten Bilder für den Künstler aus irgendeinem inhaltlichen oder formalen Aspekt von Bedeutung ist, um annähernd gefühlte Vollständigkeit zu skizzieren.Wollte ich aber nicht heillos überflutet von Informationen und Eindrücken die Ausstellung womöglich gar nicht zu Ende betrachtet verlassen, musste ich parallel zu den vom Künstler sortierten Fragmenten, meine eigenen Kriterien zur Erfassung der Bildblöcke entwickeln. Da ich einige der präsentierten Bilder als Vorlage zu bekannten Bildern von ihm identifizieren konnte und bemerkte, dass er seine Motive oft als Bildbausteine für Kompositionen und Bildforschungen nutzt, entschied ich mich bald dafür, die Bilder in einer Art Allgemeingültigkeit zu betrachten. Sie entfalten ihre anregende Wirkung in der Masse und erzählen gleichzeitig von unzähligen darstellerischen und Wahrnehmungs- Möglichkeiten. Ein Beispiel dafür sind Studien zur Raumwirkung, in denen er einige Wolkenbilder in gezeichnete Raumskizzen integrierte. Bei den Aufnahmen vom Meer kam es mir manchmal vor, als untersuche er die Wirkung der Wasseroberfläche je nach Lichtsituation auf ihre malerische Qualität hin. Das Verwischte, Nebulöse ist in seinen fertiggestellten Gemälden auch immer wieder anzutreffen. Gleichzeitig stellten die Serien offensichtlich auch die Dokumentation einer Suche (nach künstlerischen Ausdrucksmitteln) dar…
Inzwischen habe ich mich mit einigen Menschen über Eindrücke des Gesehenen austauschen und feststellen können, dass nicht nur ich das Gefühl hatte, die Arbeiten hätten etwas mit mir zu tun. Ob sie schön und technisch ausgefeilt sind, darüber lässt sich streiten, aber Richters Serien reizen, indem sie einen Prozess mitverfolgen lassen. Bei der Menge der aneinander gereihten ähnlichen Bilder, fühlen sich viele Betrachter an die Ahnung von dem treffendsten fotografischen Schuss erinnert. Man kennt das Phänomen, etwas mit der Kamera einfangen zu wollen, von dem man angezogen ist, man sich aber mit dem ersten Versuch nicht zufrieden gibt. Mit jedem Klick denkt man, man habe das, was sich vor der Kamera bietet, noch treffender eingefangen und seine Vorstellung visualisiert.
Die Essenz einer Ausstellung, die ich immer suche, fand ich in diesem Fall nicht in einem einzigen besonders grandiosen Werk, sondern in der Inspiration, die durch die Verknüpfung vieler unmittelbarer Momentaufnahmen und die Kraft der Wiederholung entstand. Die Wirkung dessen ist nicht weniger bewegend und prägend! In Gedanken begleite ich noch immer den Künstler auf seinen Streifzügen entlang der Meeresbrandung während sich Wolkenformationen verändern und weiter ziehen. Beim Dahinschlendern kommen und gehen Fragen wie inwieweit das private und gesellschaftliche Umfeld und die Kunst sich kreuzen? Und inwieweit das Sammeln eine zeitgemäße Kunstform ist und bleibt? Ich bin unter anderem zu dem Entschluss gekommen, dass man heutzutage nicht mehr unbedingt den Drang hat, Neues zu erfinden, sondern vielmehr die vielen Möglichkeiten und Eindrücke ordnen, aussortieren und in selbst kreierte Kontexte setzen möchte, mit denen man sich identifizieren kann, die den eigenen Wahrnehmungskosmos wieder spiegeln. In Zeiten von sozialen Netzwerken wie beispielsweise Instagram, in denen Smartphonebesitzer ihre eigene Bildersammlung zusammenstellen und Anderen Einblicke und Inspirationen gewähren, findet man einige höchst kreative Accounts, deren Schöpfer ihren persönlichen Vorlieben von Selfies, Inszenierungen an bestimmten Orten, hippem Essen und Sonstigem Ausdruck verleihen. Ich kann mir vorstellen, dass die Auseinandersetzung mit Bildern im Alltag dadurch etwas bewusster abläuft; sei es das Reposten von bestimmten Beiträgen aus der Bilderflut oder das Wählen eines Ausschnitts für ein eigenes Foto… Auch wenn ich den übermäßigen Gebrauch sozialer Netzwerke zur Selbstdarstellung übertrieben finde und eher kritisch sehe, gefällt mir einfach die Idee, dass das Sammeln und Präsentieren von digitalen Bildern als Alltagsritual fest verankert ist und Anlass zu vielerlei Möglichkeiten der Auseinandersetzung damit bietet. Was mich persönlich noch mehr begeistert, sind eben solche Sammlungen wie die Richters, die durch lebendiges Material noch wesentlich mehr Wahrnehmungsmöglichkeiten zulassen. Verblasste Fotografien, fleckiges Skizzenpapier und Illustriertenausschnitte von vor vielen Jahren, lassen einen ein Stück Zeitgeschichte beinahe riechen, zumindest aber eine lange Phase intensiver künstlerischer Auseinandersetzung mitempfinden.